Am 10. und 11. September 2021 veranstaltete das rock’n’popmuseum Gronau in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft (WWU Münster) und dem Ben-Haim-Forschungszentrum (Hochschule für Musik und Theater München) einen Workshop, um gemeinsam ein spannendes und wenig bekanntes Kapitel deutscher Musikgeschichte aufzuschlagen. Damit nahm der Workshop die Spurensuche auf, wie Unterhaltungsmusik jüdischer Künstler*innen in der Kultur des westlichen Münsterlandes wahrgenommen wurde und wie sich in dieser Musik und den Biografien die politischen und kulturellen Verschiebungen zwischen 1920 und 1945 wiederfinden lassen. Hierzu waren Interessierte aller Altersgruppen aus Gronau, Enschede und dem Münsterland eingeladen, die mehr über diese schwierige und musikalisch überaus inspirierende Zeit erfahren wollten. Bereits in der Vorstellungsrunde wurde die anregende Mischung aus Lehrer*innen, Historiker*innen und interessierten Westfalen deutlich.
Thematisch gliederte sich der Workshop in drei Blöcke, in denen zunächst die Unterhaltungsmusik 1920–1933 in den Blick genommen wurde. Tobias Reichard führte in den Titel des Workshops ein, der auf eine Aufführung der berühmten Operette Die Blume von Hawaii des ungarisch-deutschen Komponisten Paul Abraham (1892–1960) anspielt, die bald nach ihrer Uraufführung 1931 in Leipzig auch im Konzertsaal „Lilienfeld“ in Gronau gespielt wurde. Wie viele andere jüdische Künstler*innen, musste Abraham vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins Ausland fliehen, seine Werke wurden nach 1933 verboten. Eine Originaleinspielung durch den Sänger Richard Tauber machte diese Spannweite von Musikgeschichte und jüdischem Leben in Deutschland, individuellen Lebenswegen und Regionalkultur hörbar. In einem zweiten Schritt betrachtete Attila Kornel-Markula in seinem Impulsvortrag den historischen Kontext der Netzwerke jüdischen Kulturlebens im frühen 20. Jahrhundert vom Rheinland bis nach Westfalen, um schließlich den Fokus auf zentrale Akteure aus Gronau zu richten. Welche Veranstaltungsräume gab es in Gronau? Wo und wie wurde damals Musik rezipiert und inwiefern wurde sie mitgestaltet durch Menschen mit jüdischer Biografie? Diese Einführungen veranschaulichte Norbert Dieckmann (Alte Synagoge Epe e.V.) in einer kurzweiligen und äußerst informativen Stadtführung, bei der alle Teilnehmer*innen zu wichtigen Orten jüdischer Geschichte in Gronau spazierten und in regen Austausch kamen. Zurück im Museum erörterte Reichard am Musikbeispiel des Sängers Josef Schwarzmer-Lengyel, wie komplex die Frage nach „jüdischer“ Musik ausfallen kann. 1929–30 war dieser am Theater der Stadt Münster engagiert, seit 1933 auch beim Berliner Jüdischen Kulturbund. Die rund 25 noch erhaltenen Aufnahmen, die Schwarzmer-Lengyel bis 1934/35 in Berlin, später in New York einsang, umfassen jiddische Volkslieder wie „Fleishige, Milchige Un Parvene Yiden“ (1935). Gemeinsam wurden im Workshop Text und Notenbild dieses Stücks analysiert, um zu verstehen, was konkret vor 1933 unter Unterhaltungsmusik verstanden werden konnte. Selbst Verweise auf Speisekategorien werden darin zur Metapher für das Jüdischsein. Es wurde deutlich, dass die jüdische Unterhaltungsmusik in Zeiten der Assimilation verschiedene Positionen zu den traditionellen Formen und Motiven eingenommen hat und inwiefern das Selbstverständnis der Musiker*innen deren Verhältnis zur Tradition und eigenen Biografie prägten, unabhängig von musikalischer Relevanz.
Im zweiten Block wurden die Entwicklungen ab 1933–1939 durch Reichard exemplarisch in den Blick genommen anhand einer Einspielung der Blume von Hawaii durch die Comedian Harmonists; ein Beispiel für das Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Michael Custodis erweiterte in seinem Vortrag die Grundzüge der NS-Musikpolitik und skizzierte, wie im Allgemeinen die Gleichschaltung vonstattenging und wie komplex die Reichsmusikkammer strukturiert war, abhängig von Orten (z. B. der Grenzregion Gronau), zeitlichen Stationen und Konkurrenzen im Verhältnis von Akteuren wie Hermann Goering, Bernhard Rust, Joseph Goebbels u. a. Die Konsequenzen zeigen lokale Beispiele wie Dr. Fritz Berend, Theaterleiter in Osnabrück und Münster, der 1933 bereits vor dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen wurde. Den ersten Workshoptag beendete eine intensive praktische Arbeitsphase, moderiert durch Kornel-Markula, in der die Teilnehmenden in einer Gruppenarbeit das Wirken des 1902 in Gronau geborenen und als Kantor an der Bochumer Synagoge tätigen Erich Mendel untersuchten. Dieser ging als Eric Mandell ins amerikanische Exil und hat eine große Bedeutung für die Bewahrung der europäischen Tradition synagogaler Musik, aber auch populärer jüdischer Lieder. Die Teilnehmenden traten in aktiven Austausch, um anhand von Akten aus dem Stadtarchiv Münster und dem Landesarchiv NRW (Abteilung Westfalen) historische Angaben kritisch zu überprüfen, den Transport von Mendels Sammlung jüdischer Musikalien über Enschede in die USA nachzuvollziehen und prominente Korrespondenzpartner wie Arno Nadel und Abraham Zwi Idelsohn kennenzulernen. Offene Fragen wurden formuliert und Kornel-Markula deutete weitere Quellenfunde zu Mendel und Leo Blech aus dem Bundesarchiv an, die ausführlich ausgewertet und publiziert werden sollen.
Der zweite Tag knüpfte thematisch mit den Entwicklungen und Nachwirkungen von 1940–50 an. Reichard und Kornel-Markula richteten die Perspektive auf die besondere Rolle des Musikhandels als historische Quelle von Tonaufnahmen, Netzwerken etc. Erneut wurden die Teilnehmenden aktiv in die Archivarbeit einbezogen, indem die Familiengeschichte des jüdischen Musikalienhändlers Israel (James) Domp diskutiert wurde. Dieser baute ab 1910 in Münster eine wichtige Musikalien- und Instrumentenhandlung aus und emigrierte 1937 mit seiner Frau Rosa in die Niederlande, wo bereits ihre drei Kinder waren, darunter die Sängerin Helge Loewenberg-Domp. Deren Bruder war der Musikwissenschaftler Dr. Joachim Domp, dessen Tod in Ausschwitz erst in der jüngeren Vergangenheit aufgearbeitet werden konnte. Im Workshop wurde in den Archivdokumenten unmittelbar recherchiert, wie 1957 im Wiedergutmachungsverfahren von James Domp eine Rentenentschädigung für den Verlust an Vermögen und Freiheit während der NS-Zeit verhandelt wurde. Immer wieder zeigten sich hierbei Querverbindungen, z. B. zwischen Domp und der Operettensängerin Irm Schloss. Anschließend kontextualisierte Custodis die Unterhaltungsmusik als Folge der NS-Politik am Beispiel der „Musik im Lager Westerbork“ und vermittelte praktische Anregungen und Hinweise, wie über den Workshop hinaus Recherchearbeit betrieben werden kann.
Eigene Beteiligungen mit Erinnerungen, Sammlungen und Erfahrungen waren herzlich willkommen und spannend, lehrreich und auch unterhaltsam. Beispielsweise gab Sigrid Hentschel (geb. Dragstra) Einblicke in ihre Familiengeschichte, da die Dragstras ab 1912 das Gronauer Musikleben prägten, indem Durk Dragstra ein Musikgeschäft mit Instrumentenwerkstatt gründete. Dessen Sohn Rudolf verhalf während des Krieges jüdischen Mitbürger*innen zur Flucht über die Grenze und sein Bruder Alfred war eine zentrale Figur für die Gronauer Musikszene. Im Plenum wurde angeregt diskutiert und der Autor Alfred Hagemann wies beispielsweise auf die Schwierigkeiten in der Erforschung regionaler Archivarbeit hin, wie dem Berliner Schauspieler und Theaterregisseur Joachim von Ostau, der in Münsterland eine komplexe und widersprüchliche Figur war. Dessen Insel der Träume (1938) war ein ideologisch korrekter „Lückenfüller“ zu Abrahams Blume von Hawaii. Am Beispiel des damaligen Musikbeauftragten der Stadt Gronau Bernhard Scheffer, der gegen die gängige Unterhaltungsmusik Stellung bezog, wurden zudem gegensätzliche Positionen der Musikakteure, der Partei und der städtischen Verwaltung angedeutet. Robert Vorstheim wiederum war in Gronau Stummfilmpianist und später Unterhaltungsmusiker. Dessen Frau war katholisch, musste aber aufgrund ihrer jüdischen Familie vor dem Abtransport nach Ausschwitz fliehen. Äußerst fragwürdige Interpretationen der Blume von Hawaii durch Peter Alexander veranschaulichten die „heile Welt“ im Nachkriegsdeutschland und das damit verbundene Schweigen über jüdische Geschichte. Reichard schloss den Kreis mit einer musikalischen Collage, in der die stilistische Veränderung der Blume von Hawaii bis in gegenwärtige Interpretationen deutlich wurde und die dringende Notwendigkeit historischer Kontextualisierung in der Netzwerkarbeit jüdischer Pop- und Unterhaltungsmusik betonte.
Warum Workshops wie dieser heutzutage dringend nötig sind, exemplifizierte Custodis abschließend an Aspekten zu Pop, Antisemitismus und jüdischer Attitude an Beispielen wie Roger Waters, Xavier Naidoo und der Debatte um den Echo-Preis, ebenso wie Provokationen von Georg Kreisler seit den 1960er-Jahren. Ben Salomo wiederum tritt gegen antisemitische Tendenzen im Deutschrap auf und sensibilisiert für Zivilcourage. In einer Abschlussrunde wurde deutlich, dass tiefgründige Texte wie von Salomo die Menschen emotional erreichen können und sich daraus neue Lehrkonzepte der Wissensvermittlung ergeben, über bloße Lektürearbeit hinaus. Um den Hintergrund jüdischer Musik von Projektionen der NS-Bilder zu lösen, können sowohl Museen als auch die Schulen Jugendliche durch regionale Aspekte näher an die Themen heranführen. Als drei Kernbegriffe für weitere Workshops und Angebote zeigten sich einstimmig: Musik – Region – Aktualität. Ein durchweg zufriedenes Stimmungsbild und konstruktive Anregungen motivieren unbedingt für zukünftige Veranstaltungen. Der Workshop wurde realisiert mit Mitteln der regionalen Kulturpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen.
(Attila Kornel-Markula)